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Geschichte des Ungarischen Staatsarchivs

(Nach Lakos, János: A Magyar Országos Levéltár. [Das Ungarische Staatsarchiv] Budapest, 1996. 11–55.)

Vorgeschichte

Die Frühgeschichte des Ungarischen Staatsarchivs reicht in die Jahrhunderte des Mittelalters zurück. In der Zeit der Arpaden Könige, vom Ende des 12. Jahrhunderts an, bildete sich das königliche Archiv kontinuierlich heraus, dessen Schriftgut im 16. Jahrhundert, in der Zeit der türkischen Besetzung in Ungarn und der Spaltung des Landes in drei Teile (sog. königliches Ungarn unter der Herrschaft der Habsburger, Fürstentum Siebenbürgen und das Gebiet unter Türkenherrschaft) vernichtet oder verstreut wurde. Die Regierungsorgane des in Wien residierenden königlichen Hofes der Habsburger bewahrten ebenso selbst ihre eigenen Schriften, wie die im königlichen Ungarn tätigen Hauptämter. Nach ihrem Beispiel strebte auch der ungarische Landtag danach, die für das Land wichtigen und die Ständerechte bestätigenden Schriften in Sicherheit zu bewahren. Diese Bestrebung verstärkte sich nach der Befreiung von den Türken (am Ende des 17. Jahrhunderts), und als Ergebnis entstand der Gesetzartikel Nr. 45. vom Jahre 1723, nach dessen Verordnung die öffentlichen Schriften des Landes (publica regni acta) im Archiv des Landes (archivum regni) aufbewahrt werden müssen. Zu dieser Zeit wurde schon auch der Platz des Archivs im Landtagsgebäude in der damaligen ungarischen Hauptstadt, Pozsony/Pressburg (ab 1918: Bratislava) festgelegt, trotzdem konnte das Archiv seine Tätigkeit erst Jahrzehnte später, 1756 beginnen. Das war das Ergebnis der standhaften organisatorischen Arbeit von Graf Lajos Batthyány, der zwischen 1751 und 1765 das Amt des Palatins (des ersten Hochwürdenträgers der Stände im Königtum) bekleidete. Seinen Aufruf gemäß sammelten sich die Archivalien, deren Menge sich in solchem Maß vergrößerte, dass man für ihre Aufbewahrung und Erschließung sorgen musste. Der Palatin stellte schließlich dem Archiv zwei Räume zur Verfügung. So kam das Archiv des Landes zustande – 33 Jahre nach der Verabschiedung des Gründungsgesetzes und 7 Jahre nach der Errichtung des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Später wurde „Altes Archiv des Landes“ genannt, dessen Organisation im Jahre 1765 festgesetzt wurde. Das Archiv zog im Laufe 1784/1785 nach Ofen/Buda, in die Hauptstadt um.

„Das alte Landesarchiv“ diente vor allem dem Landtag und dem Palatin. Sein Wirkungskreis erstreckte sich nicht auf die Schriftstücke der königlichen Regierungsbehörden (Hofkanzlei, Statthalterei, Hofkammer). Seine wichtigsten Aufgaben waren die Übernahme, Aufbewahrung und Bearbeitung der Dokumente. Der Landtag und der Palatin übergaben ihre Schriftstücke regelmÖíig dem Archiv, manchmal taten das sogar Privatpersonen.

WŐhrend der bürgerlichen Revolution in 1848 erhob sich auch in Ungarn die Frage, dass ein offenes, neues Archiv im Dienste der geschichtswissenschaftlichen Forschungen errichtet werden soll. Dieser Plan scheiterte an der Revolution und am Freiheitskampf. Während der neoabsolutistischen österreichischen Regierung, als es keinen Landtag, Palatin und Landesrichter gab, war natürlich eine Pause in der Erweiterung des Archivgutes des alten Landesarchivs. Die Zeit dieses Archivs, dessen Archivgut 350–400 laufende Meter betrug, war vorbei und als die dem Parlament verantwortliche ungarische Regierung nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich im Jahre 1867 wiederhergestellt wurde, schlug das Verein der Historiker erneut vor, ein völlig neues „ungarisches königliches Landesarchiv“ zu errichten. Am 19. September 1874 beschloss der Ministerrat, dass die Archive und Schriften der ehemaligen Regierungsbehörden noch die inzwischen nach Budapest gelieferten Archive der ungarischen und siebenbürgischen Hofkanzleien sowie der siebenbürgischen Ämter im Landesarchiv zusammengelegt werden sollen. Die aufgezählten Archive wurden mit dem alten Archiv des Landes vereinigt. So kam ein neues Staatsarchiv zustande.

Geschichte des neuen Staatsarchivs bis 1945

Gyula Pauler (1841–1903) stand fast 30 Jahre lang – bis zu seinem Tod – an der Spitze des Ungarischen Staatsarchivs. Gleich nach seiner Ernennung machte er eine westeuropäische Studienreise, während der er in mehreren Ländern die Organisation und Arbeit der Archive studierte. Nach seiner Rückkehr begann er mit der Organisierung des Archivs seine auslŐndischen Erfahrungen anwenden. Das Archiv bewahrte 1874 ein 10 000 laufende Meter betragendes Archivgut. Dieser Bestand erweiterte sich in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre bedeutsam, danach aber nur in kleinerem Maße. Im Jahre 1903 verfügte das Archiv über 15 000 laufende Meter Archivgut, aber es funktionierte in diesen Jahrzehnten unter ungünstigen Umständen.

Während der Tätigkeit von Gyula Pauler wurden die sich in verschiedenen ArchivbestÖnde erhaltenen, vor 1526 (Ende des mittelalterlichen Ungarischen Königreichs) entstandenen Urkunden entnommen und in eine Sammlung zusammengelegt, so entstand in den 1890er Jahren der Kern der mittelalterlichen Urkundensammlung (sog. Dl.-Archiv). Das erste Stück der Sammlung, das die älteste originale Urkunde des Archivs ist, stammt aus dem Jahre 1109.

In dieser Zeitperiode verhinderten die immer zunehmenden Verwaltungsaufgaben (Gutachten in Adelsbestätigung- und Gemeinderegister-Angelegenheiten) die Bearbeitung der Archivalien. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Archivs übten eine bedeutsame Tätigkeit als Historiker und Herausgeber von Quellen aus.

1911 begann man mit der Vorbereitung des Baus eines neuen Archivgebäudes. Sein Platz wurde auf dem Grundstück des vom Archiv benutzten Hauses auf dem Bécsi-kapu-Platz im Budaer (Ofener) Burgviertel bestimmt. Man begann mit den Bauarbeiten im Jahre 1913. Zwischen Herbst 1914 und Frühling 1915 ruhte der Bau. Ende 1917, als die Arbeiten fast vollendet wurden, stellte man den Bau vollständig ein.

Nach dem Weltkrieg geschahen bedeutende Ereignisse im „Lebenü des Archivs dank des neuen Kultusministers, Graf Kuno Klebelsberg. Im Jahre 1922 geriet das Archiv – damit sich der wissenschaftliche Charakter verstŐrkt – unter die Aufsicht des Ministeriums für Religions- und Unterrichtswesen. Das Gesetz vom Jahre 1922 schrieb vor: das Archiv ist „eine wissenschaftliche Institution“, außerdem ordnete es an, dass die staatlichen Hauptämter verpflichtet sind, ihre über 32 Jahr alte Schriftstücke ins Archiv abzugeben.

Im nächsten Jahr, 1923, erschien die erste Nummer der Fachzeitschrift des Staatsarchivs, der Archivmitteilungen, die auch bis heute das wichtigste wissenschaftliche Publikationsforum des Faches ist. Im selben Jahr konnte das Archiv in seinem neuen, ausgesprochen für Archivtätigkeit gebauten, vierstöckigen, auch noch heute benutzten neoromanischen Palais einziehen, das damals eines der modernsten Archivgebäude Europas war. Nach dem Einzug ins neue Gebäude begann die Einlieferung der archivreifen Schriften der seit 1867 tätigen Ministerien, so stieg die Anzahl des Archivmaterials um die Mitte der 1930er Jahre schon auf 19 000 Laufende Meter an. 1935 fing man mit der Sicherheitsverfilmung des Archivbestandes an.

Das Archiv baute auch internationale Kontakte aus. Wegen der gemeinsamen historischen Vergangenheit und des gemeinsamen Archiveigentums bildete sich die fruchtbringendste Zusammenarbeit mit den österreichischen Staatsarchiven aufgrund des 1926 in Baden bei Wien geschlossenen Archivabkommens über die Betreuung des gemeinsamen, österreichisch-ungarischen Archivgutes heraus. Auch mit Archiven anderer Länder kam der Publikationsaustausch zustande.

Der zweite Weltkrieg brachte schwere Verluste für das Archiv. Der Krieg verursachte gewaltige Schäden sowohl im Gebäude als auch im Archivgut. Akten von einem Umfang von 3100 laufende Meter, 16% des Bestandes wurden zunichte, außerdem gelangten zahlreiche Archivalien unter die Ruinen oder wurden verstreut.

Neuanfang 1945–1970

Nach den Kämpfen am Winterende und im Frühling 1945 lag das kaum seit zwei Jahrzehnten in Besitz genommene, innen und außen rechtschöne GebŐude in Trümmern. Erst nach zwei Jahren, Ende 1946 besserte sich die Lage so, dass die Wiedereröffnung des Benutzerraums mit einer provisorischen Lösung möglich war. Langsam wurde auch die fachliche Tätigkeit wieder begonnen. In diesen schweren Jahren tat das Archiv tat viel im Interesse der Rettung der in Gefahr geratenen Privat(Familien)archiven.

In den Nachkriegsjahren wurde eine Zentralstelle für die direkte Verwaltung der Archive (LOK)errichtet, dieser wurde auch das Staatsarchiv mit den verstaatlichten Komitats- und Stadtarchive untergeordnet. (Die Zentralisierung der Verwaltung der Archive wurde bis 1968 vollendet.) Der Aufgabenbereich der Archive erweiterte sich bedeutsam: die Schriftstücke sollten 5–10 Jahre nach ihrer Entstehung ins Archiv abgegeben werden, die Archive wurden verpflichtet bei der Aussortierung der Akten der staatlichen Institutionen, Rats- und Wirtschaftsorgane mitzuwirken. Damals wurde die früher starke geschichtswissenschaftliche Richtung der Archive gedŐmpft. Das Staatsarchiv blieb übrigens auch danach (ganz bis heute) in der Unterstellung des Kultusministeriums – ausgenommen die kurze Epoche in den Jahren 1956–1957, als der Ministerrat sein Aufsichtsorgan war.

In den Tagen der Niederschlagung der Oktoberevolution im Jahre 1956 erlitt das Archiv einen schwereren Schaden als 1945. In dem von der Artillerie der sowjetischen Besatzungstruppen geschossenen Gebäude, das die Spuren der Kriegsschaden noch immer an sich hatte, entstand ein Feuer, das Archivmaterial von einem Umfang von fast 9000 laufenden Meter vernichtete.

Trotz der Schwierigkeiten nach 1956 wurde die Verrichtung der Aufgaben im Archiv regel- und planmäßiger. Die Aktenübernahme lief fast permanent, so stieg die Menge des hier bewahrten Archivgutes zwei Jahrzehnte später auf fast 39 000 laufende Meter an.

Periode der zwei Staatsarchive zwischen 1970–1992

Um die Wende der 60er und 70er Jahre wurde das ungarische Archivwesen wieder umstrukturiert. Die Komitatsarchive wurden die Institutionen des Rates der Hauptstadt und der Komitatsräte, Facharchive wurden errichtet, die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (MSZMP) stellte ihr eigenes Archivnetz auf. Nach sowjetischem Muster wurde am 1. Juni 1970 auch ein neues Zentralarchiv für die Bewahrung des Schriftgutes nach 1945 gegründet.

Die Menge der Archivalien stieg zwischen 1970 und 1991 nur gering, von 33 345 auf 35 531 laufende Meter an, die Mikrofilmsammlung wuchs aber mehr als auf das Doppelte, von 22 Millionen Aufnahmen auf 48 Millionen.

Die Bearbeitungen der 70er Jahre hatten in erster Linie den schon früher bestimmten Zweck, die volle Ordnung mittlerer Stufe des Archivgutes zu erreichen. Infolge dessen wurden es möglich, die Archivalien um Mitte der 70er Jahre auch in internationaler Hinsicht gut zu forschen. Die Zurechtfindung in den Archivalien erleichterten veröffentlichte Behelfe (besonders Findbücher), in einigen FŐllen Inventare. Zwischen 1974 und 1983 kam die Sammlung der Fotokopien der mittelalterlichen (vor 1526 entstandenen) Urkunden, die außer dem Archiv im In- und Ausland aufbewahrt wurden, zustande. Die Bearbeitungstätigkeit konzentrierte sich in den 80er Jahren immer mehr darauf, dass Behelfe stückweise angefertigt wurden. In dessen Rahmen begann die Verarbeitung des mittelalterlichen Quellengutes auf Computer. Die Zahl der Benützer nahm ständig zu.

Das andere staatliche Archiv, das Neue Ungarische Zentralarchiv hatte am Anfang ungünstige Tätigkeitsbedingungen an seinem Standort, ebenfalls im Burgviertel, auf dem Hess-András-Platz. Vor allem hatte es keine freie Depotkapazität. Zu seiner Gründungszeit bewahrte es Archivmaterial, das 5775 laufende Meter betrug. Infolge des Mangels an Werkstätten hatte es keine Möglichkeit Restaurierungs- und Verfilmungsarbeiten zu verrichten.

Seit der Wende der 70er, 80er Jahre konnte das Neue Ungarische Zentralarchiv weitere Räume in seinem GebŐude in Besitz nehmen, sein Personal wuchs ständig. Infolge der Erweiterung der Lagerkapazität vermehrte sich die Sammlung jŐhrlich um fast mit 1000 laufenden Meter, so wurde im Jahre 1991 ein schon 20 693 laufende Meter betragendes Schriftgut aufbewahrt.

Das Archiv musste eine gewaltige Menge von Verwaltungsarbeiten nach der Veränderung des politischen Systems in den Jahren 1989 und 1990 auf sich nehmen. Die Pflicht der Datenlieferung der Archive im Zusammenhang mit den verschiedenen Entschädigungsgesetzen nahm so sehr die Angestellten in Anspruch, dass die wirkliche Facharbeit zu dieser Zeit in den Hintergrund gelangte.

Die Wiedervereinigung des Ungarischen Staatsarchivs

Das Parlament der Ungarischen Republik verabschiedete am 12. Dezember 1991 ein Gesetz über die Wiedervereinigung der Staatsarchive. Das Gesetz (Nr. LXXXIII) erklärte das Schriftgut der ehemaligen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zum Staatsbesitz, das danach in der ersten HÖlfte des Jahres 1992 in die Verwaltung des Ungarischen Staatsarchivs gelangte. Schon in der Vorbereitungszeit des Gesetzes wurde ein Regierungsbeschluss gefasst, dass ein neues Archivgebäude gebaut werden soll, um vor allem die Akten der liquidierten (in Konkurs gegangenen oder privatisierten) staatlichen Unternehmen unterzubringen. Das Haus wurde im Februar 1997 im dritten Bezirk von Budapest (Óbuda) in Betrieb genommen,

Die Wiedervereinigung fand am 1. Juli 1992 statt. Damit war die mehr als zwei Jahrzehnte lang dauernde aus politischen Gründen stammende Zweiteilung des Ungarischen Staatsarchivs zu Ende. Das Staatsarchiv, dessen Archivmaterial 72 000 beträgt und 277 Mitarbeiter anstellt, steht vor neuen Herausforderungen.